Vellmar – Es ist das Jahr in dem Göbbels den totalen Krieg ausruft und bei Stalingrad eine ganze Armee vernichtet wird. Es ist 1943, ein Jahr, in dem auch Karlrobert Kreiten gehängt wurde. Der Pianist ist die zentrale Figur in Oliver Hilmes Buch „Schattenzeit“, ein Werk, das man als Sachbuchroman bezeichnen könnte. Am Donnerstagabend gab der Autor Kostproben aus seinem Bestseller im Evangelischen Kirchzentrum Vellmar. 100 Gäste waren der Einladung des örtlichen Literaturvereins „Ecke und Kreis“ gefolgt. „Das Buch hat mich so begeistert, dass ich es gerne in unserem Programm vorstellen wollte“, erklärte Katharina Engelhardt vom Literaturverein. Die Lesung würde sich gut in ihre aktuellen Veranstaltungen einbetten, da zuvor die Enkelin des Widerstandskämpfers Hans von Dohnanyi bei ihnen zu Gast gewesen sei und im September der Lili Jahn-Enkel Martin Doerry sein neuestes Buch präsentieren werde.
Dass im Mittelpunkt von Hilmes Buch der begabte Klavierspieler Kreiten steht, hat folgende Bewandtnis: „Als Schüler bin ich erstmals auf Kreiten aufmerksam geworden“, erzählt der Historiker, und zwar hätte damals der Journalist Werner Höfer einen Skandaltext über Kreitens Hinrichtung verfasst, die durch alle Medien gegangen sei. Noch als Teenager hatte sich Hilmes überlegt, dass er sich irgendwann dem Thema annehmen wolle, um Kreiten eine Art Denkmal zu setzen. In dem Bestseller „Schattenzeit“ ist dieses nun geschehen. Rund um die Geschichte Kreitens, der der Mutter einer Freundin gegenüber unbedacht erwähnt haben soll, dass „der Krieg längst verloren sei und Göring, Göbbels und Hitler Verbrecher wären“ und deshalb mit 27 Jahren hingerichtet wurde, ranken sich weitere Geschehnisse aus der Zeit. Ob Hilmes vom geplanten Hitler Attentat, seine Art zu essen oder der verbotenen Swing Musik in einer Berliner Bar erzählt, alles „basiert auf Daten und Fakten, die ich recherchiert habe“. So berichtet er etwa, dass Hitler beim Speisen stets eine Hand auf den Oberschenkel gehabt haben soll und mit der anderen und er nicht den Löffel zum Mund, sondern den Mund zum Löffel geführt hat. Rauchen nach dem Essen habe er zudem verboten, hieß es da. Vieles aus dem Kriegsjahr, als viele Städte schon weitgehend zerstört waren, Kinder zum Schutz aufs Land gebracht wurden und Hans Albers Massen in die Kinosäle zog, schildert Hilmes in seinem Werk. Puzzleartig hat er den dokumentarischen Roman aufgebaut, fügt darin Geschichten und Porträts aneinander „Um Kreitens Schicksal zu verstehen ging es gar nicht anders – ich wollte aufzeigen, was sich damals alles zutrug.“ Durch die lebendige facettenreiche Erzählung können selbst Geschichtsmuffel darin viel über die NS-Zeit lernen, denn die Geschichten, die er darstellt, vergisst man nicht so leicht. zt
SPIEGEL-Bestsellerautor Oliver Hilmes über Deutschland und die Deutschen im Jahr 1943 – zwischen Konzerten, Bombennächten und Staatsterror
Das Unheil nimmt seinen Lauf bei Kaffee und Kuchen. Der Krieg sei längst verloren, der »Führer« geisteskrank: Karlrobert Kreiten, 26 Jahre alt, ein hochbegabter Pianist mit goldener Zukunft, verliert im März 1943 ein unbedachtes Wort zu Gast bei einer Jugendfreundin seiner Mutter. Sechs Monate später stirbt er am Galgen.
Kreitens tragisches Schicksal steht im Mittelpunkt von Oliver Hilmes‘ grandios erzähltem Buch über Deutschland im Jahr 1943. Als bei Stalingrad eine ganze Armee vernichtet wird und Goebbels den totalen Krieg ausruft. Als die Kinder zur Sicherheit aufs Land gebracht werden und Millionen Deutsche ins Kino strömen, um Hans Albers als Münchhausen zu erleben. Als die Städte schon in Trümmern liegen, und noch immer getanzt wird. Als die NS-Vernichtungsmaschinerie auf Hochtouren läuft, die einen vom „Endsieg“ fantasieren und andere versuchen, sich der Diktatur entgegenzustellen. In einem Mosaik von Geschichten und Porträts, kunstvoll komponiert und glänzend recherchiert, lässt Hilmes das dramatische Jahr 1943 wieder lebendig werden.
»Selten passiert es in Zeiten von starker Abstumpfung und Reizüberflutung, beim Lesen noch so berührt zu werden.«
NDR Kultur (24. Januar 2023)
Oliver Hilmes, 1971 geboren, wurde in Zeitgeschichte promoviert und arbeitet als Kurator für die Stiftung Berliner Philharmoniker. Seine Bücher über widersprüchliche und faszinierende Frauen „Witwe im Wahn. Das Leben der Alma Mahler-Werfel“ (2004) und „Herrin des Hügels. Das Leben der Cosima Wagner“ (2007) wurden zu großen Verkaufserfolgen. 2011 folgte „Liszt. Biographie eines Superstars”, danach „Ludwig II. Der unzeitgemäße König” (2013) sowie „Berlin 1936. Sechzehn Tage im August“ (2016), das in viele Sprachen übersetzt und zum gefeierten Bestseller wurde. Zuletzt erschien “Das Verschwinden des Dr. Mühe. Eine Kriminalgeschichte aus dem Berlin der 30er Jahre” (2019).